Mittwoch, 23. Dezember 2009

Wie Sammael sich Weihnachten verirrte

In der Nacht vor dem Heiligen Abend träumte Nils allerhand wirres Zeug von wirbelnden Schneeflocken, tanzenden Engeln und verwehten Schlittenspuren. Deshalb war er auch gar nicht überrascht, als er plötzlich leises Weinen hörte. "Ich träume noch immer", dachte er und drehte sich auf die andere Seite.

Aber das Weinen hörte nicht auf. Es kam von draußen. Einen Augenblick zögerte er, dann warf er die Decke zurück und schlich zum Fenster. Vorsichtig spähte er durch den Spalt zwischen den Vorhängen. Es war nicht richtig dunkel draußen, denn es hatte geschneit und der Schnee verbreitete eine eigenartige Helligkeit. Hinter Wolkenfetzen kam gerade der Vollmond zum Vorschein und eine Straßenlaterne leuchtete geradewegs in sein Zimmer.

Das Schluchzen kam - ja, es kam tatsächlich von seinem Fensterbrett! Nils öffnete den Vorhang ein Stückchen weiter. Da saß ein kleiner Junge mit nackten Füßen, der nur mit einem weißen Hemd bekleidet war. Er hatte beide Hände vors Gesicht geschlagen.

Es war doch viel zu kalt, um im Hemd und ohne Schuhe draußen im Schnee zu sein! Und außerdem - wie war der Junge auf das Fensterbrett im fünften Stock gekommen? Da sah Nils die beiden weiß gefiederten Flügel, die schlaff an seinem Rücken herunterhingen.

In diesem Augenblick hob der Engel den Kopf, sah Nils und erschrak so sehr, dass er das Gleichgewicht verlor und in die Tiefe stürzte. Aber gleich darauf kam er wieder nach oben geflattert und klopfte leise an die Fensterscheibe. Mit einem Schwall kalter Luft flog er ins Zimmer und landete auf dem Teppich. "Das passiert nicht wirklich", dachte Nils. "Sicher liege ich in meinem Bett und träume."

Der kleine Engel schniefte, klopfte sich ein paar Schneeflocken ab und setzte sich auf den Boden.

"Wer bist du?", fragte Nils. "Woher kommst du? Und warum hast du auf meinem Fensterbrett gesessen und geweint?"

"Langsam, langsam", antwortete der Engel. "Eins nach dem anderen. Also: Ich heiße Sammael, vom Himmel hoch, da komm ich her, und ich saß auf deinem Fensterbrett und weinte, weil ich mich verirrt habe." Dabei wischte er sich die Tränen ab.

Nils starrte Sammael an. "Willst du damit sagen, dass du wirklich ein Engel bist?"

"Was denn sonst?"

"Komischer Traum!", dachte Nils.

Sammael stellte sich auf die Füße, stieß sich vom Boden ab und flog eine Runde durchs Zimmer. "Wie du siehst, träumst du nicht. Oder glaubst du etwa, ich wäre ein Vogel?"

"Woher weißt du, wie ich heiße und was ich denke?"

"Na, weil ich ein Engel bin."

"Und was willst du hier?"

"Nichts. Ich habe dir doch gesagt, dass ich mich verirrt habe."

"Wohin wolltest du denn?"

"Das weiß ich nicht." Sammael verzog wieder das Gesicht. "Heute - heute", schluchzte er, "durfte ich das Christkind zum ersten Mal auf die Erde begleiten. Ich sollte zusammen mit anderen Weihnachtsengeln Geschenke vom Schlitten in die Häuser tragen. Aber dann hat es angefangen zu schneien, und ich fand das so schön. Ich bin vom Schlitten gesprungen und hochgeflogen, immer höher, und habe mit den Flocken getanzt. Auf einmal waren alle weg. Was soll ich bloß tun?"

"Kannst du nicht einfach zurück in den Himmel fliegen?"

"Ich kann die Himmelspforte nicht mehr finden."

Nils dachte nach. "Eigentlich müsstest du die Schlittenspuren im Schnee sehen."

"Gar nichts kann ich sehen. Die Spuren sind längst zugeschneit."

"Flieg noch mal über die Stadt! Irgendwo muss der Schlitten doch sein!"

"Ich bin schon so lange herumgeflogen. Ich kann nicht mehr." Sammael gähnte und rieb sich die Augen.

"Ich wecke meine Eltern. Vielleicht können sie dir helfen."

"Das hat keinen Zweck! Weißt du denn nicht, dass die meisten Erwachsenen Weihnachtsengel nicht sehen können?"

"Wieso nicht?"

"Weil sie nicht an uns glauben. Bei Kindern ist es anders. Sie wissen, dass es uns gibt, und dieses Geheimnis macht Weihnachten zu einem ganz besonderen Fest. Erwachsene verstehen das nicht. Es gibt nur sehr wenige, die das Weihnachtsgeheimnis nicht vergessen haben."

"Du meinst, ich kann dich nur sehen, weil ich weiß, dass es dich gibt?"

"Du hast es erfasst."

Für einen Augenblick war es still im Zimmer. Plötzlich hörte man ein lautes Grummeln.

"Was war das?", fragte Nils erschrocken.

"Mein Magen. Ich habe Hunger. Seit ich heute Nachmittag vom Himmel weggeflogen bin, habe ich nichts mehr gegessen."

"Soll ich dir was holen? Vielleicht ein Käsebrot?"

"Ich bin ein Weihnachtsengel und esse keine Käsebrote. Aber wenn du vielleicht Plätzchen oder ein bisschen Marzipan für mich hättest?"

Nils schlich in die Küche. Er holte einen kleinen Teller aus dem Schrank und das klirrte. Als er die Plätzchendose von der Fensterbank nahm und öffnete, rumpelte und schepperte es.

Das Licht flammte auf. Im Türrahmen stand seine Mutter. "Was machst du da?"

"Ich - ich hab Hunger."

"Um diese Zeit?"

"Ich - ich - kann nicht schlafen."

"Na gut. Nimm dir ein paar Plätzchen, und dann bringe ich dich wieder ins Bett."

An der Hand seiner Mutter ging Nils zurück. Er war gespannt. Würde sie den Weihnachtsengel sehen können?

Das Kinderzimmer war leer. Auch Nils konnte Sammael nirgends entdecken.

Nachdem seine Mutter die Tür geschlossen hatte, lag Nils einen Augenblick ganz still. "Sammael?", fragte er schließlich.

Keine Antwort.

"Sammael, wo bist du?"

Nichts.

Nils lauschte. Hatte er am Ende doch nur geträumt? Er seufzte. Als er sich gerade zum Schlafen auf die Seite legen wollte, spürte er eine Bewegung am Fußende des Bettes. Dort saß Sammael mit dem Plätzchenteller und futterte.

"Wo warst du denn? Ich dachte schon ..."

"Ich habe mich versteckt. Unter deinem Bett. Um dich ein bisschen zu erschrecken." Er kicherte. "Mhm, diese Plätzchen schmecken übrigens gut! Fast so gut wie die aus der himmlischen Backstube!"

Nachdem er die letzten Krümel vom Teller gepickt hatte, wurde sein Gesicht wieder traurig.

Nils kam eine Idee. "Ich bin gleich zurück", sagte er und rannte auf bloßen Füßen die Treppe hinunter. Die Wohnzimmertür war abgeschlossen. Der Schlüssel rappelte im Schloss und die Tür knarrte laut, als er sie öffnete. Erschrocken hielt er inne. Seine Eltern hatten zum Glück nichts gehört.

Nils sah sich in dem dunklen Zimmer um. Der Weihnachtsbaum stand fertig geschmückt in einer Ecke, aber darunter lagen keine Geschenke. Erleichtert atmete er auf.

Eilig lief er zurück zu Sammael. "Du bist gerettet!", rief er. "Das Christkind war noch nicht hier. Du brauchst nur ins Wohnzimmer zu gehen und zu warten, bis es kommt."

Sammael war so erleichtert, dass er Nils um den Hals fiel und ihn nicht nur umarmte, sondern auch seine weiß gefiederten Flügel ganz fest um ihn schlug.

"Psst!", sagte Nils. "Ich glaube, ich höre was!"

Es klang wie Schlittenglöckchen und das Scharren von Kufen im Schnee.

"Schnell, spring hinunter ins Wohnzimmer! Sonst verpasst du das Christkind am Ende noch!"

"Auf Wiedersehen, Nils, und vielen Dank!" In der Tür drehte der Engel sich um. "Bis nächstes Jahr vielleicht! Wenn du dann noch an mich glaubst."

"Bestimmt! Bis nächstes Jahr, Sammael."

Nils lauschte einen Augenblick, dann legte er sich zufrieden lächelnd zum Schlafen zurecht.

Mit dem herrlichen, dem ganz besonderen Gefühl, das er nur an Weihnachten hatte, wachte er am nächsten Morgen auf. Mit ernsten Gesichtern erwarteten seine Eltern ihn am Frühstückstisch.

Statt "Guten Morgen" sagte sein Vater: "Du hast uns sehr enttäuscht."

Verständnislos blickte Nils ihn an.

"Du bist heute Nacht im Weihnachtszimmer gewesen", fuhr seine Mutter fort. "Wir haben es gemerkt, weil die Tür war nicht mehr abgeschlossen war! Warum hast du das getan? Wolltest du dir heimlich die Geschenke anschauen?"

Jetzt wurde Nils alles klar. "Bitte, glaubt mir! Ich habe mir die Geschenke nicht angeschaut! Ich wollte nur ..."

Er stockte. Sie würden ihm ja doch nicht glauben.

"Was wolltest du?"

Nils Gedanken überschlugen sich. "Erwachsene können keine Weihnachtsengel sehen", hatte Sammael gesagt. Dass sie nichts über sie hören konnten, hatte er nicht gesagt. Einen Versuch war es wert.

"Ich musste einem Weihnachtsengel helfen", erklärte er, und dann erzählte er seinen Eltern die ganze Geschichte.

Sie sahen sich einen Augenblick lang an. Dann lächelte die Mutter. "Du hast geträumt. Und wahrscheinlich bist du schlafgewandelt. Das wäre ja nicht das erste Mal."

"Gestern war auch Vollmond", fügte der Vater hinzu.

Nils stutzte. Hatten seine Eltern womöglich Recht? War Sammael nur ein Traum gewesen? Je länger er darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher schien es ihm. Schließlich musste er fast über sich selbst lachen: Ein kleiner Weihnachtsengel, der sich verirrt hatte und in seinem Zimmer herumflog und Weihnachtsplätzchen aß - so eine verrückte Geschichte konnte er nur geträumt haben!

Als am Abend die Kerzen angezündet wurden und er seine Geschenke auspackte, hatte er seinen merkwürdigen Traum schon fast vergessen. Bis er versteckt unter einem tief hängenden Tannenzweig eine kleine weiße Feder fand. Schnell steckte er sie in die Hosentasche. Er würde sie sorgfältig aufbewahren, damit er Sammael und das Weihnachtsgeheimnis niemals vergaß.
© Eva Markert

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