Die Mutter der Wassernixen sitzt am Bergbach und wartet. Alles scheint voller Frieden zu sein. Die Sonne leuchtet warm auf die Erde und die vielen Blumen duften um die Wette. Plötzlich hört sie einen durchdringenden Schrei. Schnell beugt sie sich über den Bach und sieht, wie ein kleiner, ganz silbern glänzender Wassertropfen voller Verzweiflung um Hilfe ruft. Sie taucht ihre Hände ins Wasser und nimmt ihn ganz behutsam auf. Zuerst zittert der silberne Kleine in ihren Händen, doch nach und nach wird er immer ruhiger. Langsam, mit leiser Stimme, beginnt die Mutter der Wassernixen zu sprechen: " Kleiner Wassertropfen, du brauchst keine Angst zu haben, es ist alles gut. Du bist in Sicherheit." "Ich spüre, dass mir wohl ist in deinen Händen und dass ich nicht schmelze. Doch sage, wer bist du denn?" fragt staunend der kleine Wassertropfen. "Ich bin die Mutter der Wassernixen und ich habe, so wie alle meine Kinder auch, den Auftrag vom ewigen Licht empfangen, mich überall da aufzuhalten, wo es Wassertropfen gibt und diese auf ihrem Weg zu unterstützen. Nun erzähle mir aber, was dir geschehen ist. Warum hast du so verzweifelt um Hilfe gerufen?" Nach den Worten der Mutter stösst der kleine Wassertropfen einen tiefen Seufzer aus und beginnt zu sprechen: "Mir ist etwas Furchtbares geschehen! Ich erinnere mich noch, wie es dunkel um mich war und ruhig. Plötzlich begann sich alles zu drehen und ich wurde aus dieser Höhle hinaus in etwas sehr Helles gepresst. Darauf wurde ich mit vielen Brüdern und Schwestern zusammen weitergetrieben. Zuerst fand ich es noch ganz schön und einfach, mich so tragen zu lassen, doch dann kam auf einmal etwas sehr Hartes, Spitziges. Ich wurde darauf zu geschleudert, durch die Luft gewirbelt und mit voller Wucht zurück zu meinen Geschwistern geworfen. Das war so schrecklich und tat so unsagbar weh...!" Der Wassertropfen kann nicht mehr weitererzählen. Aufmerksam hat die Wassernixen-Mutter zugehört und wartet, bis sich ihr Schützling wieder beruhigt hat. Dann beginnt sie zu erklären: "Schau, kleiner Wassertropfen, was dir geschehen ist, gehört zu deinem Weg. vielleicht hast du schon bemerkt, dass du anders aussiehst, als viele deiner Geschwister. Du hast ein ganz helles, silbern glänzendes Licht in dir. Alle Wassertropfen, die das silberne Licht in sich tragen, haben sich vorgenommen, den Weg bis zum Meer zu gehen. es gibt ganz viele, verschiedene Wege. Ein Wassertropfen mit einer anderen Farbe hat sich zum Beispiel vorgenommen, sich bald nach seiner Geburt einer Blume zu schenken. Ein anderer weiss, dass er den Durst eines Rehs stillen wird und wieder ein anderer hat gewählt die Erfahrung in einem Sumpf zu machen. Sieh, es ist kein Weg besser als der andere. Wichtig ist einzig, dass jeder Wassertropfen wirklich den Weg geht, den er sich vor der zeit vorgenommen hat und wir Wassernixen helfen und unterstützen euch dabei. Du mein kleiner Wassertropfen, hast gewählt, diesmal das Meer zu erreichen. Das ist ein sehr weiter Weg und du musst kräftig werden, damit du ihn gehen kannst. Deshalb hast du schon kurz nach deiner Geburt etwas erlebt, das dich stärken soll und du wirst auf deinem Weg noch vielen solchen Erlebnissen begegnen." "Nein, nein, nur das nicht!" ruft der kleine Wassertropfen voller Entsetzen. "Ich will nie mehr solch einen Schmerz erleben und ich will gar nicht bis zum Meer! Oder - doch, zum Meer muss ich, das spüre ich ganz deutlich. Eine tiefe Sehnsucht danach ist in mir. Doch diesen Schmerz will ich und kann ich nie, nie wieder erleben! Ach, gute Mutter, was soll ich nur tun ?" Verzweifelt zieht sich der kleine Wassertropfen in sich zusammen und bewegt sich nicht mehr. "Höre, kleiner Abenteurer," fährt die Mutter der Wassernixen liebevoll weiter, " du brauchst auch nie mehr Schmerz zu erleben, wenn du dies nicht willst, du hast die Wahl." "Die Wahl?" Ungläubig blickt der kleine Wassertropfen zu seiner Beschützerin hinauf. "Ja, du hast die Wahl", wiederholt geduldig die Mutter. "Den Hindernissen auf deinem Weg begegnest du sicher, doch du kannst wählen, ob du dich hart machen und dich dagegen wehren willst. In diesem Fall spürst du Schmerz, das hast du soeben erlebt. Die andere Möglichkeit ist ,die, dass du dich dem grossen Strom, der dich zum Meer führt, hingibst, und dich bei jedem Hindernis weich machst. Vielleicht hast du schon bemerkt, dass du deine Form verändern kannst. Ich will dir jetzt einige Hindernisse voraussagen, damit du verstehen kannst. Du wirst noch oft den spitzigen Steinen begegnen. Verändere dann deine Form, umspüle sie, gehe weiter und du wirst keinen Schmerz spüren. Später wird der Strom breiter und du wirst eines Tages erfahren, wie du mit einer ungeheuren Kraft in die Tiefe gezogen wirst. Wehre dich nicht, gehe bis auf den Grund und du wirst merken, wie du wieder hochgezogen wirst. Einmal wirst du auch eine grosse Weile durch die Luft fallen. Gib dich dem Erleben hin und du wirst Spass daran haben! Und als letztes, kleiner Wassertropfen: Du wirst nicht immer mit den gleichen Brüdern und Schwestern zusammen sein, vor allem am Anfang deines Weges. Ihr werdet zusammengeführt vom grossen Strom, geht eine weile den gleichen Weg und werdet wieder mit anderen Geschwistern verbunden. Lass das geschehen, es ist gut so." "Mutter, Mutter, dann ist es also möglich, dass ich meiner grossen Sehnsucht, bis ans Meer zu kommen, nachgeben darf und trotzdem nicht mehr Schmerz sondern Freude erleben darf?" Der kleine Wassertropfen hat sich bei diesen Worten wieder ausgebreitet und die silberne Farbe leuchtet hell aus seinem Innern. "Ja, so ist es", erwidert die Mutter, beglückt darüber, dass der kleine Wassertopfen so schnell verstanden hat. "Und noch etwas möchte ich dir sagen: Du wirst immer Hilfe haben, wenn du sie brauchst. Meine Kinder werden dich unterwegs ermutigen und da sind auch noch die Engel des Wassers, die dir ihre Liebe und Unterstützung schenken, wenn du sie darum bittest." "Oh, du liebe Mutter der Wassernixen, wie bin ich glücklich und wie freue ich mich nun auf meinen Weg! Jetzt will ich weiter und ich danke dir von ganzem herzen für deine Hilfe!" Bei diesen Worten nimmt der kleine Wassertropfen einen Anlauf, drückt der Mutter einen nassen Kuss auf die Wange und hüpft zurück in den Bergbach, aus dem er für eine Weile herausgehoben wurde. Lächelnd schaut die Mutter der Wassernixen ihrem kleinen Freund nach, wie er sich mitten unter seinen Geschwistern mutig und voller Freude auf den Weg macht zum grossen Meer.
(Autor unbekannt)
Foto: Markus Wegner - Pixelio.de
Mittwoch, 16. September 2009
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